Juli Zeh – Zwischen Welten

Juli Zeh – Zwischen Welten

„Moral in der Politik ist Scheiße“

Zwischen Freien Bauern

An Juli Zeh scheiden sich die Geister, die mich umgeben. Die einen feiern sie als eine, die sagt, was in diesem Land nicht stimmt, auch wenn sie es ihnen ein wenig zu sehr durch die Blume sagt.  Die anderen haben sie abgewählt, weil sie nicht klar Stellung bezieht, sondern eben nur durch die Blume spricht.
Juli Zehs Blumen sind ihre Bücher.

Als sein zweites „1984“ bezeichnet mein Freund Carlos Juli Zehs „Corpus Delicti“ – eine Dystopie aus dem Jahr 2009, in dem sie das, was 2020 mit Corona über uns gekommen ist, quasi vorwegnimmt.
Juli Zeh – eine Seherin? Wie George Orwell? Für Carlos definitiv.

Als ich ihm erzähle, dass ich Juli Zeh live erlebt habe, ist er ganz neidisch.
Warum habe ich ihm nicht Bescheid gesagt?
Carlos verrät mir, dass Juli Zeh dafür verantwortlich sei, dass ich heute noch mit ihm sprechen könne. Ihr „Corpus Delicti“, sagt er, habe ihn zurück ins Leben gebracht. Eineinhalb Jahre nach einer schweren Herzoperation, von der er sich nicht erholte und langsam aber sicher aus dem Leben verabschiedete. Ein Freund schenkte ihm in dieser (Lebensend)Phase „Corpus Delicti“. Carlos verschlang es – einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Mit jedem Lesen kehrten immer mehr Lebensgeister in ihn zurück. Sein Orwellscher Blick – mit dem er seit der Lektüre von „1984“ erst durch die DDR und anschließend durch die sich erweiternde Welt gegangen war – erwachte wieder und wollte gefüttert werden.

Wenn ich das gewusst hätte? Natürlich hätte ich Carlos gefragt, ob er mitkommen wolle. Wie auch ich gefragt worden war, ob ich mitkommen wolle – zur Mitgliederversammlung der Freien Bauern Brandenburgs. Selbstverständlich wusste Claudia, meine Nachbarin und Lieblingsbäuerin, dass Juli Zeh mich überzeugen würde. Aber auch sonst war ich neugierig – auf diese mir doch so fremde Bauernwelt. Zwar lebe ich auf dem Land, plausche hier mit dem Schäfer, dort mit dem Rinderzüchter und beobachte fasziniert die Mähdrescher, aber eine Ahnung davon, wie es um unsere Bauern bestellt ist, was ihre Sorgen und Nöte sind, habe ich nicht. Was ich weiß, ist lediglich, dass sie große Sorgen und Nöte haben, dass die Bürokratie sie auffrisst und sie Angst haben müssen, von großen Konzernen verschluckt zu werden.

Vor einem Jahr waren sie deshalb auf der Straße – mit all ihrem schweren Gefährt. Mich bremsten sie damals aus. Ich war auf dem Weg, um Schulkindern das Hockeyspielen beizubringen. Plötzlich stockte der Verkehr. Nix ging mehr. Weder vor noch zurück. Die Hockeystunde fiel aus.  

Fremde vertraute Welt

Nun sitze ich zwischen genau jenen Bauern, die vor einem Jahr die Wege nach Berlin verstopften.
Es ist ein Eintauchen in eine mir bisher unbekannte Welt. Doch irgendwie ist sie mir auch vertraut. Der große festliche Saal. Die langen weißbetuchten Tische. Das Buffet. Die emsigen Kellner. Die Blaskappelle auf der Bühne. Das Entscheidende jedoch ist das freundliche, verbindende Miteinander.
Es erinnert mich tatsächlich an früher, an meine Kindheit, meine Kindheit in der DDR – als wir regelmäßig Hausgemeinschaftsfeste feierten, Straßenfeste, Vereinsfeste, an denen irgendwie alle mitwirkten, jeder seinen Beitrag leistete.  
Auch das gemeinsame Singen passt ins Damals. Lauthals schmettern wir die Brandenburghymne. Ich lese sie vom Zettel ab. Später im Fernsehen sehe ich, dass auch Juli Zeh am anderen Ende des Saals, mitgesungen hat.

Dann betritt sie die Bühne. Eine kleine zierliche Frau, die Reinhard Jung, der Geschäftsführer der Freien Bauern vorstellt – als eine Schriftstellerin, die kritische Themen anspricht und damit auch durchdringt.

Mit ihrem letzten Buch „Zwischen Welten“, einem Briefwechsel, den sie gemeinsam mit Simon Urban schrieb, machte sich Juli Zeh zur Sprecherin des Bauernstandes. Ich selbst stand dem Buch kritisch gegenüber, fand den Austausch zwischen der Milchbäuerin Theresa und dem Hamburger Journalisten Stefan zu konstruiert. Die Art und Weise, in der die beiden korrespondieren und sich immer wieder in ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Ansichten vor den Kopf stoßen, war mir so fremd, dass ich einen solch ausdauernden verbalen Schlagabtausch für völlig unrealistisch hielt. Freunde jedoch versicherten mir, dass es durchaus und nicht wenige Menschen gäbe, die derart miteinander kommunizierten.
Überzeugt von der Qualität der „Zwischen Welten“ hat mich schließlich Claudia, meine Lieblingsbäuerin. „Alles, was über uns Bauern und unsere Probleme darinsteht“, sagt sie, „stimmt hundertprozentig. Das Buch ist richtig gut recherchiert“.

Spaltung – Gefahr und Chance

Nun sitzt Juli Zeh leger in dem alten Omasessel auf der Bühne und erzählt, dass sie die Bauernproteste vor einem Jahr als etwas sehr Positives erlebt habe und denke, da sei etwas angekommen, vor allem, dass es noch Bauern gäbe und diese enorm wichtig für die Zukunft des Landes seien. Auslöser für diese Einschätzung sind ihr die vielen Bürger am Straßenrand, die sich mit den Bauern solidarisierten und diese aus der Ecke der Wutbauern herausholten. Als Reinhard Jung fragt, wie daraus Kapital zu schlagen sei, antwortet Zeh, dass in der größten Gefahr zugleich die größte Chance läge und diese hieße: SPALTUNG.

´Aha`, denke ich und spitze die Ohren. Ich bin gespannt auf die Erklärung.

Die AfD, gegen die allerorts Stimmung gemacht werde, sagt Zeh, verstehe sie als Weckruf. Zehn Jahre lang habe der Wecker geklingelt, nun begänne man ihn zu hören. Mit dem Hören verknüpft Zeh auch die Hoffnung, dass das Framing – „eine ganz falsche Reaktion der Politik“ – endlich ein Ende habe und Probleme in den Vordergrund rückten, die künftig sachlich diskutiert würden.
Dafür, fügt sie an, müsse die Klingeltaste allerdings weiter energisch gedrückt werden. Was sie damit meint, erläutert Zeh wenig später als sie sagt, sie wundere sich, wie viel sich die Leute gefallen ließen, schließlich passierten so viele Dinge, dass eigentlich ständig zig Leute nach Berlin ziehen und auf die Straße gehen müssten.
Zeitgleich warnt sie davor, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Sachlich und bei den Themen bleiben, ist ihr wichtigstes Anliegen.

Fehlendes Vertrauen

Ich sitze da und höre gespannt zu, meine Freunde und ihre unterschiedlichen Ansichten über Juli Zeh immer im Ohr. Ich prüfe und befinde, dass Juli Zeh ganz schön Klartext redet,
wenn sie bestätigt, wie gefährlich es sei, wenn sich in der Politik Koalitionen, die einander hassen, gegeneinander ausspielen, anstatt zu handeln und zu gestalten.
Wenn sie sagt, viele Themen seien ideologisiert und moralisiert und machten eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich.
Wenn sie sagt: „Moral in der Politik ist Scheiße!“
Wenn sie sagt, was ihr fehle, sei das komplette Vertrauen, dass die Bürger überhaupt etwas allein hinbekommen würden. Bei Corona habe man das erlebt.  Allerdings, sagt sie weiter, sei dieses Bevormunden nicht erst bei Corona erfunden worden, dort habe man es nur ganz deutlich gesehen, das fehlende Vertrauen in die Eigenverantwortung.

Ich bin begeistert. ´Von wegen Blume. Nichts da. Deutlicher geht es nicht`, denke ich gerade, als Juli Zeh aus dem Publikum gefragt wird, wann sie denn endlich aus der SPD austreten würde.
Oh, Juli Zeh ist in der SPD?, das wusste ich gar nicht.
Nach allem, was ich bisher gehört habe, rechne ich fest damit, dass sie nun ein Austrittsdatum in Aussicht stellt. Doch nein. Juli Zeh lehnt es ab, irgendwo dabei zu sein, wo alles 100prozentig stimme.  Im Nachhinein denke ich, ich hätte aufspringen und fragen sollen, wie viele Prozente für sie denn noch stimmten. Viele können es nicht mehr sein. Deutlich unter fünfzig Prozent.
Tja, Chance vertan. Ich bin noch am Aufnehmen, brauche zum Verdauen und komme erst zu Hause auf den Gedanken, dass ich hätte nachfragen sollen.

Juli Zeh spricht weiter, von Treue zur Idee als Institution.
Ich frage mich, was für Institutionen sind unsere Parteien, die uns im Wahlkampf die Hucke volllügen und sich zu keiner Zeit auch nur im Anflug um die Belange der Bürger kümmern. Unsere Politiker, das ist meine Erkenntnis aus dem Erleben der letzten Jahre, sind meilenweit von meinem Leben und noch viel mehr von dem der Arbeiter und Bauern entfernt.

Hatte Juli Zeh das vor ein paar Minuten nicht gerade bestätigt? Als sie davon sprach, dass gerade hier in diesem Landstrich zurzeit durchaus Erinnerungen an die sozialistische Planwirtschaft wach werden könnten, als den Menschen aus ortsfremden Zentren viele strenge Regeln aufoktroyiert wurden, egal ob diese einen Sinn ergaben oder nicht.

Alles Taktik?

Hallo? Juli Zeh?
Was soll ich davon halten?

Claudia, meine Lieblingsbäuerin hat Verständnis. Sie denkt, Juli Zeh müsse so taktieren, um nicht in eine Ecke gestellt zu werden und dadurch ihre Reichweite einzubüßen. Indem sie durch die Blume spricht, glaubt Claudia, erreicht Juli Zeh viele, viele Menschen, die sich abwenden würden, wenn die Schriftstellerin sich bei anderen Themen als denen, die die Bauern betreffen, ebenso glasklar positionieren würde.
Mein Freund Michael macht ihr genau das zum Vorwurf. Während der CoronaZeit wartete er vergebens auf deutlichere Worte von Juli Zeh, zum Beispiel zum politischen Missbrauch des Virus, zu Abhängigkeiten von Ämtern und von Lobbyisten oder zum Versagen der Judikative, der die studierte Juristin als Verfassungsrichterin in Brandenburg angehört. „Ich kann ihr nicht vertrauen“, sagt Michael. „Ich hätte Angst, dass sie mit meiner Meinung spielt.“

Was mache ich damit? Ich wollte mir ein Bild verschaffen.

Nach ihrem Auftritt bleibt Juli Zeh noch ein wenig, plaudert, beantwortet Fragen, wirkt sehr zugewandt und auf Augenhöhe.

Sind Michael und meine Erwartungshaltungen zu groß? Sind sie falsch? Wir beide positionieren uns klar. Genau wie Claudia und auch Carlos. Allerdings sitzen wir alle nicht bei Lanz und Maischberger und werden als Mittler zwischen den Welten um unsere Meinung gefragt. Würde Juli Zeh noch gefragt werden, wenn sie sich eindeutiger positionieren würde?

„Wie man es macht, macht man es verkehrt“, pflegte meine Oma früher gerne zu sagen.
Was ist richtig, was ist falsch? Was würde ich an Juli Zehs Stelle tun?
Ich weiß es nicht.
Und hoffe auf ihren Orwellschen Blick, der offenbar einen Funken Licht am Ende des Tunnels sieht.
 

Mir fehlen die Worte

Mir fehlen die Worte

In ihrem letzten Brief vom 21. Oktober erzählt Noras Zufallsbekannschaft, die 19-jährige Marie von ihren Erfahrungen während der CoronaZeit.

Pinnow, 1. Dezember 2024

Liebe Marie,

was für ein Bericht. Ich danke dir sehr. Und bin erschüttert. Krass, dieses Plexiglas – wer denkt sich so etwas aus? Offenbar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es dir dahinter geht. Aber nein, du schreibst, du hast es ihnen gesagt und dabei bitterlich geweint, alle wussten Bescheid – es ging darum, dich auszugrenzen. Mir fehlen die Worte.
Meine Clara fragt: Was ist falsch mit den Menschen? Ich frage, wo ist die Empathie? Einfach dieses Vermögen, sich in den anderen hineinzuversetzen? Von uns wurde das die ganze Zeit verlangt: Solidarität.

Kennst du das Kinderbuch: Und damals war es Friedrich? Ich sehe deutliche Parallelen. Aber das darf man ja nicht sagen.

Wenn ich lese, was du schreibst, schüttele ich die ganze Zeit den Kopf. Wie hast du das weggesteckt. Unbeschadet. Bist du unbeschadet? Das ist doch ein Trauma. Wahrscheinlich gleich mehrere – Traumata. Machst du irgendetwas, um das aufzuarbeiten, zu verarbeiten?

Als Mutter frage ich mich, wie es deinen Eltern erging. Gab es die Überlegung dich aus der Schule zu nehmen? Was war mit deinen Geschwistern? Konnten eure Eltern euch auffangen?
In welcher Schule bist du jetzt? Noch in derselben? Wenn ja, wie geht das? So wie vielfach um uns herum – einfach weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre?

Liebe Marie,
15 warst du …
mir kommen die Tränen. Da sitzt etwas. Ich bin ja immer versucht, im Austausch zu sein. Spüre aber oft ein großes Bestreben zu verschweigen, wegzudrücken …

Ich danke dir sehr, dass du hilfst festzuhalten, zu erinnern.
Ganz liebe Grüße,
Nora.

PS: In dem Buch, das ich zur Zeit lese (Jenseits des Abgrunds) bin ich gerade vorhin an einem Abschnitt hängen geblieben, der genau auf dich und deine Situation passt:
„Und keiner seiner Klassenkameraden hat etwas unternommen?“ fragte ich empört.
„Manche haben gelacht
Andere empfanden wohl Mitleid mit ihm, schauten aber weg. Schon Einstein hat gesagt: Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern denen, die Böses zulassen. „

In mir war ein wahnsinniger Schmerz

In mir war ein wahnsinniger Schmerz

Vor etwas mehr als einem Jahr lernte Nora während eines Benefiz-Konzerts für Julian Assange die damals 17-jährige Marie kennen. Bisher tauschten die beiden zwei Briefe.
Maries Brief
Noras Antwort

Berlin, 21. Oktober 2024

Liebe Nora,

nun habe ich dich warten lassen. Aber ich musste dann doch erst noch einmal tiefer in mich gehen und habe dabei festgestellt, dass ich einige Erlebnisse tatsächlich vergessen habe. Verdrängt. Gestrichen. Es war so viel. Vier lange Jahre. Und nun scheint es schon wieder so lange her, so weit weg. Dabei ist es das gar nicht. Sondern nur abgehakt. Bei vielen. Aber auch das nur scheinbar. In uns schlummert es. Was für eine krasse Zeit.

Also: Wie war das?
Ich war 14 als es losging, wurde 15 als die Krise schon voll im Gange war und diese Panik in der Gesellschaft verbreitet wurde.
Die ersten zwei Wochen waren wir als Familie auch in Sorge, was da jetzt wohl kommen würde, aber dann wurde uns ziemlich schnell klar, dass da etwas nicht so gut läuft. Wir, das sind meine Eltern und meine drei Geschwister, ließen uns von unserem Hausarzt alle Maskenatteste verschreiben. Aus Widerstandsgründen, ich wollte mich diesem Widersinn nicht unterwerfen, aber natürlich auch aus gesundheitlichen Gründen – das hält ja keiner aus, so viele Stunden unter, hinter (wie sagt man?) einer Maske zu sitzen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass man mich in der Schule, als ich mein Maskenattest vorlegte, kurzerhand hinter Plexiglas setzen würde. Ganz hinten in der Klasse – aus heutiger Sicht witziger oder vielmehr ironischer Weise – in der rechten Ecke.
Ich schicke dir mal ein Foto mit, damit du eine Vorstellung hast. Rund um mich, in einem U stand dieses Plexiglas. Ich saß wie in einem Aquarium. Fast. Denn das Plexiglas war nicht mal einen halben Meter hoch, das heißt: es hat überhaupt keinen Sinn ergeben. Es ging nur darum zu zeigen, mich von den anderen fernzuhalten, vor allem aber zu zeigen, dass ich nicht dazu gehöre.
Ich war 15 Jahre alt, als das geschah.

Nachdem das Plexiglas stand, wurde noch ein Regelwerk für den Umgang mit mir aufgestellt. Als dieses Regelwerk besprochen und beschlossen wurde saßen wir alle in einem Stuhlkreis – alle hatten eine Maske auf, nur ich nicht.
Das war eine traumatische Situation, weil ich ja wirklich ganz alleine war. Auch mit meiner Meinung, die ich offen geäußert habe, weil ich zu meiner Sicht auf die Situation stehen wollte. Dadurch wurde es mit der Maskenbefreiung natürlich noch problematischer.
In diesem Stuhlkreis nun habe ich erzählt, wie ich mich fühle und dabei bitterlich geweint.
Stell dir vor, es ist niemand, wirklich NIEMAND zu mir gekommen und hat ein tröstendes oder versöhnliches Wort gesagt. Seit acht Jahren gingen wir zusammen in dieselbe Klasse, wir waren verbunden, hatten eine gemeinsame Vergangenheit …
Das ist die Stelle, an der ich merke, da sind Erinnerungen weggerutscht, weil es so schrecklich war. Da war ein Ausmaß an Ausgrenzung erreicht, dass man gar nicht richtig fassen kann. Da saßen Gleichaltrige, von denen ich hämisch angegrinst und erniedrigt wurde und niemand hat das Wort ergriffen und gesagt: Hey, das kann doch nicht sein.

Es ist schwer, diese Dimension, die in so vielen Bereichen stattgefunden hat, zu begreifen. Es erinnert wirklich an diese andere schreckliche Zeit, als abgestempelt und ausgegrenzt wurde. Damals wie zu Corona interessierte überhaupt nicht, was für ein Mensch da vor einem steht, dass da ein Mensch vor einem steht, den man so behandelt.
Es war wirklich äußerst unwürdig und unmenschlich.

In mir war ein wahnsinniger Schmerz.
Es war eine unglaubliche Zeit hinter diesem Plexiglas.
Gleichzeitig habe ich in dieser Situation natürlich wahnsinnig viel gelernt.
Glücklicher Weise habe ich immer meinen wachen Blick für die Dinge behalten, und der wurde durch die Ausgrenzung noch einmal verstärkt. Und mein Widerstand auch.

Ja, so war das liebe Nora.
Danke, dass du das festhältst.

Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.
Achso: und wenn du Fragen hast, frage 😊

Liebe Grüße, Marie.

Unbedingt festhalten!

Unbedingt festhalten!

Vor mehr als einem Jahr lernte Nora während eines Benefizkonzerts für Julian Assange, die damals 17jährige Marie kennen. Nachdem Marie in Noras Briefwechsel davon las, dass eine Schule die Coronazeit aufarbeiten möchte, fragte sie gestern per Brief an, ob Nora Interesse daran hätte, Maries Erleben als Schülerin während der CoronaZeit im Briefwechsel festzuhalten.

Fergitz, 16. Oktober 2024

Liebe Marie,

wie schön von dir zu hören.
Natürlich erinnere ich mich an dich! Du hast mich damals so beeindruckt mit deinen – wie alt warst du? – 17 Jahren? Weißt du, wie ich mich geärgert habe, dass ich mir deine Nummer nicht habe geben lassen. Schon an diesem Abend dachte ich, diese deine Erfahrungen   müssen aufgeschrieben, müssen festgehalten werden. Aber dann war ich mit Gabriele Gysi ins Gespräch vertieft und anschließend habe ich dich nicht mehr gefunden. Zwischen den vielen Menschen.
Und jetzt ist Assange frei!!!

Also: gerne, gerne und unbedingt schreibe mir, wie es dir in der CoronaZeit an deiner Schule ergangen ist.
Und auch, wie es dir jetzt geht!

Ganz liebe Grüße,
Nora .

Aufschreiben und niemals vergessen

Aufschreiben und niemals vergessen

Berlin, 15 Oktober 2024

Liebe Nora,

erinnerst du dich noch an mich?
Wir haben uns vor eineinhalb Jahren auf dem Julian-Assange-Konzert in der Musikbrauerei kennengelernt. Wir haben nebeneinander gesessen und dann fast den ganzen Abend miteinander verbracht. Du sagtest damals, ich erinnere dich an deine Tochter. Ich hoffe, ihr und auch dir geht es gut, in dieser noch immer verrückten und immer verrückter werdenden Zeit.

Ich stöbere gerne mal auf deiner Seite. Gestern bin ich auf den Brief von Kristina gestoßen –  gibt es tatsächlich eine Waldorfschule, die aufarbeiten will, die sieht, was (auch) sie angerichtet hat? Ich jubele. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung.

Was mir immer wieder aufstößt, ist die Unwissenheit, derjenigen, die einfach mitgemacht haben, die offenbar nicht(s) hinterfragt haben. Und jetzt nicht sehen (können?) und viele, das unterstelle ich mal, nicht sehen wollen, was sie damit angerichtet haben.
So jedenfalls ist es an meiner Schule. Ich glaube, ich hatte dir damals in der Musikbrauerei erzählt, wie mit mir in der Coronazeit umgegangen worden ist. Als Schülerin mit Maskenbefreiung und damit als Aussätziger. Ich würde dir gerne davon schreiben, damit du es in deinem Briefwechsel festhalten kannst. Wenn ich es richtig verstanden habe, soll der Briefwechsel ja auch ein Zeitzeugnis sein. Ich denke, meine Geschichte, mein Erleben ist ein wichtiges Zeitzeugnis. Viele Menschen haben gar keine Vorstellung, was wir, die wir anders auf Corona geschaut haben erdulden, ja erleiden mussten, wie mit uns umgegangen worden ist.
Ich bin gewillt, den Menschen zu verzeihen, auch wenn ich nicht sicher weiß, ob ich es kann, aber das Wichtigste ist, dass man diese Sachen, die geschehen sind, niemals vergisst und immer wieder in die Köpfe ruft.
Deshalb signalisiere mir bitte, ob ich dir meine Geschichte schreiben soll. Ich war 15 und es war so krass …

Liebe Grüße,
Marie.